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Istanbul Istanbul

Roman | Burhan Sönmez

E-Book (EPUB)
2017 Btb Verlag; İletişim Yayıncılık
288 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-641-19425-3

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Der Nebel, der sich auf Istanbuls Zeit legte und Leben und Tod zugleich barg, war wunderschön.
Unter den uralten Straßen Istanbuls sitzen vier Gefangene in einer Zelle - ein Student, ein Doktor, ein Barbier und ein alter Mann - und warten darauf, reihum von den Wärtern zum Verhör abgeholt zu werden. Um sich abzulenken, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten. Geschichten aus ihrer Stadt, Geschichten voller Liebe und Humor. Geschichten, die ihnen helfen sollen, die Begrenzungen von Raum und Zeit aufzuheben und das Leid erträglicher zu machen. Durch Parabeln und Rätsel bringen sie einander zum Nachdenken und Lachen. Und allmählich verwandeln sich diese eindringlichen Erzählungen von unterhalb der Stadt in zahlreiche ineinander verwobene Geschichten von Istanbul selbst. Und sie zeigen, dass auch oberhalb des Kerkers Leid und Hoffnung nah beieinander liegen.

Burhan Sönmez wurde 1965 in Zentralanatolien geboren und wuchs sowohl mit der kurdischen als auch der türkischen Sprache auf. Er studierte Jura in Istanbul. Sönmez war Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der demokratischen Stiftung TAKSAV. Bei einem Übergriff durch die Polizei wurde er 1996 in der Türkei schwer verletzt und anschließend dank der Freedom-from-Torture-Stiftung in England medizinisch versorgt. Er unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara, schreibt für verschiedene unabhängige Medien. Er ist aktives Mitglied des kurdischen, türkischen und englischen PEN, und wurde im Herbst zum Vorsitzender des PEN International gewählt. Burhan Sönmez lebt mit seiner Familie in Istanbul und Cambridge. Seine preisgekrönten Romane erscheinen inzwischen in über zwanzig Ländern.

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_1. Tag_

Student Demirtay erzählt

Die Eisentür

»Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz«, fing ich an. »In Istanbul hatte man nie zuvor einen solchen Schneefall erlebt. Als gegen Mitternacht zwei Nonnen das St.-Georg-Krankenhaus in Karaköy verließen, um zur St.-Antonius-Kirche zu gehen und die schlimme Nachricht zu überbringen, lagen zuhauf tote Vögel unter den Dachvorsprüngen. Mitten im April zerfraß der Frost die Blüten der Judasbäume und der schwertscharfe Wind piesackte die Straßenköter. Hast du es je im April schneien sehen, Doktor? Es ist eigentlich eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz. Die beiden Nonnen kämpften sich durch das Schneegestöber, eine war jung, die andere alt. Schon fast auf Höhe des Galata-Turms sagte die junge Nonne zur anderen: Vom Fuß der Steigung an folgt uns ein Mann. Die ältere Nonne meinte: Ein Mann, der uns bei Sturm und Nacht folgt, kann nur eines im Sinn haben.«

Das Ächzen der Eisentür unterbrach mich. Ich warf dem Doktor einen Blick zu.

Es war eisig in der Zelle. Während ich dem Doktor die Geschichte erzählte, lag Barbier Kamo zusammengerollt auf dem nackten Betonboden. Decken gab es hier nicht, wir schmiegten uns aneinander wie Hundewelpen, um ein wenig Wärme zu finden. Seit Tagen drehte sich die Zeit um immer denselben Punkt, unmöglich zu bestimmen, wo die Nacht entlangfloss und wo der Morgen. Wir kannten den Schmerz und erlebten Tag für Tag aufs Neue das Grauen, das unser Herz überschwemmte, wenn man uns zur Folter holte. In dem kurzen Intervall, wenn wir uns gegen den Schmerz zu feien versuchten, waren Mensch und Tier, Weiser und Irrer, Engel und Teufel einander gleich. Als das Ächzen der Eisentür durch den Gang hallte, richtete Barbier Kamo sich auf. »Sie kommen mich holen«, unkte er.

Ich stand auf, trat an die Zellentür und spähte durch das kleine, in Kopfhöhe befindliche Gitterfenster hinaus. Das Licht der Lampe im Gang fiel auf mein Gesicht, als ich auszumachen versuchte, wer von der Eisentür her kam. Es war niemand zu sehen, vermutlich warteten sie am Eingang. Geblendet vom Lichtschein kniff ich die Augen zusammen. Ich warf einen Blick zur Zelle gegenüber und fragte mich, ob das junge Mädchen, das heute wie ein verwundetes Tier dort hineingeworfen worden war, wohl noch lebte.

Die Geräusche im Gang ebbten ab, ich setzte mich wieder und legte meine Füße über die des Doktors und von Barbier Kamo. Zum Aufwärmen kuschelten wir die bloßen Füße aneinander und bliesen uns den warmen Atemhauch aus nächster Nähe ins Gesicht. Auch Wartenkönnen war eine Kunst. Ohne jedes Bedürfnis zu reden, horchten wir auf das kaum wahrnehmbare Klappern von jenseits der Mauern.

Den Doktor hatten sie vor zwei Wochen in die Zelle gesteckt. Als man mich am nächsten Tag bluttriefend dazuwarf, hatte er mir die Wunden gereinigt und sein Jackett über mich gebreitet. Jeden Tag holte ein anderes Verhörteam uns mit verbundenen Augen heraus und brachte uns Stunden später kaum bei Sinnen zurück. Barbier Kamo wartete bereits seit drei Tagen. Seit er hier im Kerker saß, hatte man ihn weder zum Verhör geholt noch auch nur seinen Namen genannt.

Die Zelle von einem Meter Breite und zweien Länge war uns zunächst winzig vorgekommen, mittlerweile hatten wir uns eingewöhnt. Boden und Wände waren aus Beton, die Tür aus grauem Eisen. Einrichtungsgegenstände gab es keine. Wir hockten auf dem nackten Boden; schliefen uns die Beine ein, standen wir auf und drehten Runden. Manchmal, wenn wir den Kopf hoben, bei einem Schrei aus der Ferne, blickten wir einander im schummrigen, vom Gang hereinfallenden Licht an. Die Zeit verging mit Schlafen und Reden. Wir froren erbärmlich und wurden jeden Tag dünner.

Wieder erklang das rostige Quietschen der Eisentür. Die Vernehmer gingen fort, ohne jemanden aus den Zellen mitzunehmen. Wir lauschten, warteten ab, um uns zu vergewissern. Als die Eisentür ins Schl