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Der Schatten
Thriller | Melanie Raabe
E-Book (EPUB)
2018 Btb Verlag
416 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-641-21304-6
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MELANIE RAABE wurde 1981 in Jena geboren. Nach dem Studium arbeitete sie tagsüber als Journalistin - und schrieb nachts heimlich Bücher. 2015 erschien DIE FALLE, 2016 folgte DIE WAHRHEIT, 2018 dann DER SCHATTEN und 2019 DIE WÄLDER. Ihre Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt, mehrere Verfilmungen sind in Arbeit. Melanie Raabe betreibt zudem gemeinsam mit der Künstlerin Laura Kampf einen erfolgreichen wöchentlichen Podcast rund um das Thema Kreativität, 'Raabe & Kampf'. Melanie Raabe lebt und arbeitet in Köln. Mit »Die Kunst des Verschwindens« verließ sie erstmals das Gebiet des traditionellen Thrillers und entführt uns in eine Welt, in der alles möglich und nichts selbstverständlich ist.
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet
3
Wien zeigte ihr die kalte Schulter. Als sie vor einigen Jahren mit Alex im Sommer in der Stadt gewesen war, da war sie ganz bezaubert gewesen von dieser eigensinnigen Metropole, die so anders war als jeder Ort, den Norah kannte. Das schien ewig her.
Nun wirkte alles so düster. Edvard Munchs Vision von einem Wien, ein Finsterwald aus Asphalt, verzerrt und bedrohlich. Norahs leere Wohnung, die Düsternis der Straßen. Die Passanten mit ihren Smartphones, die Melancholie, die wie ein schmieriger Film über allem lag, allumfassend und unsichtbar. Und die gottverdammte Kälte.
Im Kiosk schräg gegenüber kaufte Norah sich eine österreichische und eine deutsche Tageszeitung sowie eine Packung Zigaretten und setzte sich damit in das Eck-Bistro. Als sie den ersten Schluck Kaffee nahm, war die Wucht der Erinnerung, die sie beim Anblick von Theresa gestreift hatte, ein wenig geschwunden, und ihre Gedanken wandten sich wieder dem zu, was vor ihr lag.
Offiziell würde ihr neues Arbeitsverhältnis erst in zwei Wochen beginnen, doch Norah brannte darauf, endlich wieder an die Arbeit zu gehen. Weswegen sie auch begeistert gewesen war, als ihr neuer Chefredakteur sie vorab zu einem Gespräch in die Redaktion eingeladen hatte. Tatsächlich war es nach ausgiebigen Telefonaten das erste echte Kennenlernen. Ein wenig nervös war sie ja doch. Sie wusste, dass sie eine gute Journalistin war, sie hatte mit einigen ihrer Reportagen Preise gewonnen, und es hatte schon in der Vergangenheit Abwerbeversuche anderer Häuser gegeben. Aber das war alles vorher gewesen. Vor dem, was sie in ihrem Kopf nur die Katastrophe nannte. Danach war ihr das Jobangebot aus Wien wie ein grausamer Scherz erschienen. Es war viel zu gut, um wahr zu sein.
Dr. Mira Singh, die Verlegerin, hatte sie höchstpersönlich angerufen. Durch Norahs Reportage über Soldatinnen in Afghanistan sei sie auf sie aufmerksam geworden, habe anschließend alles gelesen, was sie in den letzten Jahren veröffentlicht habe und schätze ihre Arbeit sehr. Ihre Beobachtungsgabe, ihr Gespür für Themen. Man habe in Wien gerade ein neues Wochenmagazin gegründet und stelle sich eine top besetzte Redaktion vor, die sich - statt mit der Geschwindigkeit des Internets konkurrieren zu wollen - durch aufwändig recherchierte Geschichten von profilierten Autorinnen und Autoren von der Masse der Magazine absetzen wolle.
Für Norah hatte das regelrecht paradiesisch geklungen. Wo war der Haken? Sie hatte Singh gefragt, ob sie wisse, dass sie gerade eine Klage am Hals habe, und diese hatte nur gemeint, sie kenne den Text, um den es gehe. Sie suche eine Frau mit Haltung und glaube, sie in ihr gefunden zu haben. Einen Tag Bedenkzeit hatte sich Norah erbeten. Aus Prinzip. Dann hatte sie zugesagt. Was sonst hätte sie tun sollen?
Und nun war sie hier.
Die Redaktion befand sich unweit des Stephansdoms, im touristischsten Teil der Stadt, direkt an einer der riesigen Einkaufsmeilen mit ihren Fast-Food-Läden und Bekleidungsketten - ein Angebot, das in jeder größeren europäischen Stadt, die Norah bereist hatte, nahezu identisch war. Norah kannte die Gegend von einer ihrer früheren Reisen nach Wien. Von morgens bis abends war sie von Touristen und allen, die von ihnen lebten, bevölkert. Da waren die Reisegruppen auf dem Weg zum Stephansdom, die Trickdiebe, die Straßenmusiker, hier und da ein paar gestresste Städter, die versuchten, sich halbwegs effizient durch die Menschenmassen zu bewegen, die Teenager, die Selfies auf ihren iPhones machten. Und die Bettler. Die Obdachlosen. Wie Geister kamen sie ihr vor. Ihre Rufe hallten durch die Straßen, immer und immer wieder, wie die von Gespenstern. Hallo? Hallo? Und die Lebenden fröstelten, wenn sie ihre Stimmen vernahmen, und taten so, als hörten sie nichts. Vor vielen Jahren hatte sie einmal eine Reportage über minderjährige Obdachlose machen wollen, ihren damaligen Chef aber nicht dafür interessieren k