Suche

Das PhilosophenschiffOverlay E-Book Reader

Das Philosophenschiff

Roman | Michael Köhlmeier

E-Book (EPUB)
2024 Carl Hanser Verlag Gmbh & Co. Kg
Auflage: 1. Auflage
224 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-446-28237-7

Rezension verfassen

€ 17,99

in den Warenkorb
  • EPUB sofort downloaden
    Downloads sind nur in Österreich möglich!
  • Als Hardcover erhältlich
  • Als Audio erhältlich
Mit Lenin auf dem Sonnendeck - eine beinahe wahre Geschichte vom 'erstklassigen Erzähler Michael Köhlmeier.' Denis Scheck, ARD Druckfrisch
Mit diesem großen Werk schließt Michael Köhlmeier an seinen Bestseller 'Zwei Herren am Strand' an. Zu ihrem 100. Geburtstag lädt die Architektin Anouk Perleman-Jacob einen Schriftsteller ein und bittet ihn darum, ihr Leben als Roman zu erzählen. In Sankt Petersburg geboren, erlebt sie den bolschewistischen Terror. Zusammen mit anderen Intellektuellen wird sie als junges Mädchen mit ihrer Familie auf einem der sogenannten 'Philosophenschiffe' auf Lenins Befehl ins Exil deportiert. Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen treibt, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane Abendland (2007), Madalyn (2010), Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013), Spielplatz der Helden (2014, Erstausgabe 1988), Zwei Herren am Strand (2014), Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016), Bruder und Schwester Lenobel (2018), Matou (2021) und zuletzt Frankie (2023), außerdem die Gedichtbände Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und Ein Vorbild für die Tiere (Gedichte, 2017) sowie die Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet (2017), Die Märchen (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019) und Das Schöne (59 Begeisterungen, 2023). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Erstes Kapitel

Frau Professor Anouk Perleman-Jacob lernte ich an ihrem hundertsten Geburtstag kennen. Der Österreichische Ingenieur- und Architekten-Verein lud zu einem Abendessen ihr zu Ehren ins Palais Eschenbach im 1. Wiener Gemeindebezirk. Das war im Mai 2008.

Meine Einladung verdankte ich ihrem »ausdrücklichen Wunsch«. Ich möge die Geschichte von Dädalus erzählen; die habe sie im Radio gehört und wolle sie noch einmal hören, weil darin Dinge vorkämen, von denen sie nichts gewusst habe und von denen auch sonst niemand etwas wisse - sie habe bei ihren Freunden nachgefragt -, zum Beispiel, dass Dädalus ursprünglich Bildhauer, später Architekt und dann erst Erfinder gewesen sei. Das alles hatte mir der Präsident des Vereins, Herr Dr. Mahler, am Telefon mitgeteilt. Er klang, als wäre ihm die Sache unverständlich und unangenehm, und würde es nach ihm gehen, wäre keine Einladung an mich ausgesprochen worden. Seine Stimme war eintönig wie die eines Butlers, der vorsorglich jeden ihm unbekannten Besuch als verdächtig einstuft und verächtlich behandelt. Ich gab ihm recht - im Stillen -, auch mir war die Sache peinlich, denn gerade diese Geschichte hatte ich frei erfunden, hatte aber in meiner Radiosendung so getan, als wäre sie überlieferter Mythos.

Ich erzählte sie an diesem Abend dann doch nicht. Niemand forderte mich dazu auf. Ich war erleichtert, zugleich auch ärgerlich, ich war immerhin sieben Stunden mit dem Zug gefahren und würde noch einmal sieben Stunden zurückfahren. Ich wollte mich bei Gelegenheit davonschleichen. Vor dem Dessert kam ein junger Mann an meinen Tisch - ich war an den äußersten Rand des Saals platziert worden - und sagte, Frau Professor Perleman-Jacob wünsche, dass ich mich zu ihr setze.

Sie hörte nicht mehr gut und konnte nur noch schlecht sehen. Mit den anderen an ihrem Tisch sprach sie überlaut, mit fester, beinahe jugendlicher Stimme. Da waren neben dem Präsidenten des Vereins die Ministerin für Unterricht, Kunst und Kultur, der Wiener Bürgermeister, der Leiter der Kulturabteilung der Stadt, der Vizekanzler der Republik und der russische Botschafter, dazu Gatte und Gattinnen, und dann noch eine Amerikanerin, eine - wie sie mir vorgestellt wurde - Freundin und Kollegin der Geehrten, die immer wieder nach ihrer Hand griff und sie drückte. Die Amerikanerin war es auch, die sich bei mir dafür entschuldigte, dass meine Erzählung aus dem Programm gestrichen worden war, eine Stimme wie ein Mann. Die Gefeierte höre inzwischen so schlecht, dass mein Auftritt nicht die gebührende Wirkung erfahren würde.

Frau Perleman-Jacob bat den Vizekanzler, der neben ihr saß, mir seinen Platz zu überlassen. Ich solle ihr »mein Ohr leihen«, damit meinte sie - sie winkte mich mit ihrem Zeigefinger zu sich -, ich solle mich zu ihr beugen. Es war mehr als merkwürdig: Flüsternd in strengem Ton befahl sie mir, amüsiert dreinzuschauen, auf jeden Fall nicht ernst, aber auch nicht allzu interessiert. Am besten, ich tue, als ob sie mir ein Kompliment zuflüstere, etwas Harmloseres gebe es in ihrem Alter nicht. Sie erwarte mich morgen Nachmittag um drei in ihrem Haus in Hietzing. Dann lachte sie spitz auf - ich lachte ebenfalls, als hätte sie mir, der ich halb so alt war wie sie, tatsächlich ein Kompliment gemacht - und raunte mir ihre Adresse zu.

Ich war nur für dieses Abendessen von Vorarlberg nach Wien gefahren. Frau Perleman-Jacob war eine zu bekannte Persönlichkeit, um abzulehnen, eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen des 20. Jahrhunderts. Berühmtheit erlangt hatte sie, als sie in den Fünfzigerjahren in Frankfurt, Brüssel und in den Siebzigerjahren auch in Amerika Siedlungen für Arbeiter geplant und gebaut hatte, die - ich zitiere aus der Einladung des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins