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Kanaillen-Kapitalismus

Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft | César Rendueles

E-Book (EPUB)
2018 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
300 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-518-75996-7

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Nach dem Erscheinen seines Essays Soziophobie schrieb die taz, César Rendueles verbinde »eine antikapitalistische Haltung mit einem abgeklärten Wissen um die Komplexität von Gesellschaften«. Wissen darüber, wie die Welt vor der freien Marktwirtschaft aussah und wie die ökonomische Logik nach und nach alle Lebensbereiche durchdrungen hat, entstammt immer auch der Lektüre fiktionaler Literatur. In seinem neuen Buch erkundet Rendueles seine persönliche Lesebiografie. Anhand von Klassikern wie Robinson Crusoe und Kultbüchern wie American Psycho zeichnet er nach, wie der Kapitalismus sich uns einverleibt hat. Doch zugleich kann in Büchern, das zeigt Rendueles etwa an Kleists Michael Kohlhaas und an Science-Fiction-Romanen, auch der Geist der Revolte und solidarischer Utopien stecken.

Raul Zelik, 1968 in München geboren, ist Schriftsteller und Politikwissenschaftler und publiziert seit vielen Jahren zu den sozialen Konflikten in Lateinamerika. Bis 2013 lehrte er als Associate Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Seit 2016 ist er Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.

César Rendueles, geboren 1975 in Girona, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid.



Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

9Prolog

Den größten Teil seines Lebens beschäftigte der Philosoph Immanuel Kant den Hausbediensteten Martin Lampe bei sich, den er 1802 entließ, nachdem die beiden sich aus nicht überlieferten Gründen überworfen hatten. Kant war damals 78 Jahre alt, begann unter Altersdemenz zu leiden und bediente sich kleiner Zettel, auf denen er Aufgaben und unerledigte Angelegenheiten notierte. Auf einem vermerkte er: »Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden.«1 Der Witz an der Angelegenheit besteht natürlich darin, dass es sich dabei um so etwas wie einen performativen Widerspruch handelt. So wie es ein todsicherer Weg in die Schlaflosigkeit ist, sich zum Einschlafen zwingen zu wollen, stellt das Aufschreiben einer Notiz über etwas, das vergessen werden muss, ein hervorragendes Mittel dar, um sich etwas ins Gedächtnis zu brennen.

Die umgekehrte Operation ist hingegen relativ einfach zu verwirklichen. In den neunziger Jahren entwickelte die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus ein elegantes Experiment, das die Möglichkeit nachwies, falsche Erinnerungen im Gedächtnis gesunder Erwachsener zu verankern, ohne dabei auf aggressive Techniken der Gehirnwäsche zurückzugreifen.2 Loftus wählte 24 Personen aus, denen man vier knapp geschilderte Kindheitserinnerungen vorlegte: Drei von 10ihnen beruhten auf Informationen eines Angehörigen und waren wahr, während die Forscher die vierte frei erfunden hatten (eine Geschichte darüber, wie die Person als kleines Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen war). Loftus fragte, ob sich die Versuchspersonen an die vier Episoden erinnerten und ob sie diese, im Falle einer bejahenden Antwort, schildern könnten. Das eigentliche Überraschende war nicht, dass ein Viertel der Versuchspersonen der Meinung war, die fälschlicherweise erinnerte Episode habe sich tatsächlich ereignet, sondern dass sie diese mit Details ausschmückten und mit echten Emotionen schilderten. Bei ähnlichen Experimenten gelang es sogar, bei der Hälfte der Teilnehmerinnen falsche Erinnerungen zu induzieren.

Die Arbeit von Loftus fand ein enormes öffentliches Echo, weil sie im Widerspruch zur Theorie der unterdrückten Erinnerung stand, die in den Achtzigern in den USA eine Lawine von Strafprozessen wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ausgelöst hatte. In jenen Jahren hatten Tausende Personen Strafanzeige erstattet, nachdem sie sich im Verlauf einer Psychotherapie an vermeintliche, in einem verborgenen Winkel ihrer Psyche begrabene Übergriffe erinnert hatten. Loftus stellte den Wahrheitsgehalt dieser Erinnerungen mit dem ziemlich überzeugenden Argument infrage, dass Menschen, die Opfer traumatischer Erlebnisse geworden sind, diese gewöhnlich nicht vergessen, sondern sich eher obsessiv an sie erinnern.

11Loftus wurde zu einer berühmten, aber auch umstrittenen Persönlichkeit. Sie wurde, teilweise durchaus begründet, beschuldigt, sich auf der Seite der Täter und gegen die Opfer zu positionieren, und erntete die Feindschaft ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie wurde sogar bedroht und musste Leibwächter anheuern. Nichtsdestotrotz lassen die Versuche von Loftus, wie der Neurologe Oliver Sacks angemerkt hat, auch eine optimistische Interpretation zu. Vielleicht ist der fragile Charakter unseres Erinnerungssystems, von Begehren gesteuert und dementsprechend unzuverlässig, ein wichtiges Element der Vorstellungskraft und Empathie. Unser Gehirn ist ein gefräßiges und nicht gerade skrupulöses Organ, das fremde Erfahrungen gerne aufgreift und sie in den eigenen Bestand einbaut - unabhängig davon, ob sie real sind oder nicht. »Die Gleichgültigkeit gegenüber den Quellen«, schreibt Sacks, »erlaubt es, dass wir uns das, was wir lesen, was uns erzählt wird, was andere sagen, denken, schreiben und malen, genauso eindrücklich und intensiv aneignen wie unsere eigenen Erf