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Wovon wir lebenOverlay E-Book Reader

Wovon wir leben

Roman | Birgit Birnbacher

E-Book (EPUB)
2023 Paul Zsolnay Verlag
Auflage: 1. Auflage
192 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-552-07347-0

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Ein literarischer Roman über die brennenden Themen der Gegenwart: Das neue Buch der Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher
Birgit Birnbacher, der Meisterin der 'unpathetischen Empathie' (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau), gelingt es, die Frage, wie und wovon wir leben wollen, in einer packenden und poetischen Sprache zu stellen.
Ein einziger Fehler katapultiert Julia aus ihrem Job als Krankenschwester zurück in ihr altes Leben im Dorf. Dort scheint alles noch schlimmer: Die Fabrik, in der das halbe Dorf gearbeitet hat, existiert nicht mehr. Der Vater ist in einem bedenklichen Zustand, die Mutter hat ihn und den kranken Bruder nach Jahren des Aufopferns zurückgelassen und einen Neuanfang gewagt. Als Julia Oskar kennenlernt, der sich im Dorf von einem Herzinfarkt erholt, ist sie zunächst neidisch. Oskar hat eine Art Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen und schmiedet Pläne. Doch was darf sich Julia für ihre Zukunft denken?

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 erschien bei Zsolnay der Roman Ich an meiner Seite.

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Wird Zeit, dass das Jahr zu Ende geht. Wenigstens eines habe ich gelernt: die vollständige Atmung. Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen. Hier, vor dem Eingangsbereich im Krankenhaus, ist es für einen Augenblick ungewohnt still. In der Kapuze meiner Winterjacke knistern Schneeflocken. Kurz bleibe ich auf dem Weg zum Gebäude hin stehen. Unter meinen Schuhen knirscht der Kies. Einen Moment noch so tun, als wäre nichts. Ich schaue die Fassade hinauf zur Station, die mein Arbeitsplatz gewesen ist, zu der ich gleich ein letztes Mal hinauffahren werde, um meine Sachen zu holen. Hier stehe ich nun und rühre mich nicht. Atme ein und aus. Vollständige Atmung. Ich konnte ein Leben lang Asthmatikerin sein, ohne zu wissen, was das ist.

Aus einem der Bodengitter des Kellers steigt ein Schwall Industriesauberkeit herauf, frische Wäsche. Der Duft verfliegt so schnell, wie dort unten das Licht ausgeht. Müde, wie ich bin, denke ich für einen kurzen Moment, dass das gute Arbeit ist: ein weißes Tuch und der Auftrag, es zu waschen und zu falten. Aber ich bin alt genug, um zu wissen, niemand wäscht einfach ein Tuch. Bevor ein Tuch wie dieses sauber wird, kleben Blut und Scheiße daran, und die Chemie bringt einen um.

Ich spüre, dass meine Kapuze sich langsam mit Schnee füllt. Gleich wird mir ein Tropfen ins Genick rinnen. Dort unten hat jemand für heute seinen Dienst beendet, ich beende meinen hier oben für immer. Der da unten wird morgen wiederkommen, aber was tue ich, an meinem ersten Tag, wenn ich arbeitslos bin, wenn sie mich nach Ablauf des Krankenstands kündigen? Diese Atelektasen gleichen einer Vollzeitbeschäftigung: Steroidsprays, Tabletten, Entkrampfungsmittel, inhalieren und immer wieder inhalieren. Vierzehntägige Kontrolle. Alles wegen ein paar unbelüfteter Bereiche in der Lunge. Ich habe immer schon schlecht Luft gekriegt, aber nach dem letzten Asthmaanfall wurde es seltsam eng, als habe der Vorfall in der Arbeit mitgespielt. »Alles kann man nicht auf die Organe schieben«, hat die Lungenärztin gesagt, und sie hat natürlich recht, den Rest schiebe ich aufs Krankenhaus. Solange ich krank bin, ist die Kündigung rechtswidrig. Aber sie warten nur darauf, so steht es im Brief der Personalabteilung: Die Kündigung erfolgt auf die Gesundschreibung, prompt. Noch habe ich durch die Krankheit gut zu tun. So viel ändert sich also nicht. Zuerst waren die anderen krank, jetzt bin ich es halt selbst. Arbeit ist Arbeit, aber das stimmt natürlich nicht. Wenn Arbeit einfach Arbeit wäre, wäre Auszeit zum Beispiel Auszeit. Aber Auszeit zählt auch nur, wenn die Arbeit die Arbeit bleibt. Und Krankheit nur, wenn Genesung naht. Wenigstens da gehöre ich zu den Glücklichen, die Glücklichen unter den Arbeitslosen sind so krank, dass die Krankheit die Arbeit ablöst. Den weniger Glücklichen fehlt nicht einmal was.

Viele Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich gern Krankenschwester bin.

»Für mich wäre das nichts«, habe ich oft gehört. Viele haben immer wieder gesagt, dass sie eine solche Arbeit nicht machen könnten, und mit können war natürlich wollen gemeint.

»Zu Hause« im Innergebirg, das von der Stadt kilometermäßig bloß eine Autostunde entfernt gewesen wäre, zugleich aber durch ein Bergmassiv und vier Tunnel abgetrennt ist, habe ich lange nicht davon geträumt, eines Tages in der Stadt zu leben. Träumen stand nicht auf dem Plan. Irgendetwas werden stand auf dem Plan, und ginge es nach den Eltern, wäre ich damals, nach dem Absolvieren der Pflichtschule und der Bürolehre im Autohaus, bereits genug »geworden«. Man muss zufrieden sein.

In der Region Innergebirg gab es drei große Arbeitgeber: die Kissinger-Schokoladenfabrik im flussabwärts gelegenen Schwarzbach, ein kleiner, schattiger Eisenbahnerort am Fuße des schattenwerf