Suche

MiddlemarchOverlay E-Book Reader

Middlemarch

George Eliot

E-Book (EPUB)
2022 Anaconda Verlag
1216 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-641-29826-5

Rezension verfassen

€ 7,99

in den Warenkorb
George Eliots virtuos komponierter Roman »Middlemarch« ist ein Meisterwerk realistischer Literatur: Mit ungeheurer erzählerischer Finesse entwirft er ein ebenso getreues wie dichtes Gesellschafts- und Sittenporträt der englischen Provinz Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei gelingt es Eliot auf spielerisch leichte und geradezu verblüffende Weise, ihren zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren Leben einzuhauchen und den zeittypischen Kampf um Selbstbestimmung und soziale Teilhabe hautnah erfahrbar zu machen. Die stoffliche und stilistische Vielfalt von Eliots 1871/72 erschienenem Monumentalroman faszinieren bis heute.

George Eliot wurde 1819 als Mary Ann Evans in Arbury Farm/Warwickshire geboren. Bis zum Tod ihres Vaters 1849 führte sie dessen Haushalt, danach zog sie nach London und begann dort für die »Westminster Review« zu schreiben. Ihren ersten Roman »Adam Bede« veröffentlichte sie 1858 - mit großem Erfolg - unter männlichem Pseudonym. Mehr als zwanzig Jahre lang lebte sie mit dem Kritiker G. H. Lewes in wilder Ehe zusammen, was ihr weitgehende gesellschaftliche Ächtung eintrug. 1880 starb sie in London. George Eliot gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen des psychologisch-sozialen Romans.

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Miss Brooke war von jener Schönheit, die durch schlichte Kleidung nur um so mehr zur Geltung zu kommen scheint. Ihre Hände und Handgelenke waren so zart geformt, daß sie schmucklose Ärmel tragen konnte gleich der Heiligen Jungfrau, wenn sie sich italienischen Malern zeigte, und ihr Profil wie auch Gestalt und Gebaren schienen durch die einfachen Gewänder nur noch an Hoheit zu gewinnen, was ihr im Vergleich mit der in der Provinz herrschenden Mode das Beeindruckende eines schönen Zitats aus der Bibel - oder aus einem unserer älteren Dichter - in einem Zeitungsartikel verlieh. Man pflegte von ihr zu sagen, sie sei bemerkenswert klug, fügte indessen stets hinzu, ihre Schwester Celia besitze mehr gesunden Menschenverstand. Doch auch Celia putzte sich kaum mehr als sie, und nur dem guten Beobachter unterschied sich ihre Kleidung von der ihrer Schwester, indem sie eine Spur Koketterie in der Anordnung zeigte; denn Miss Brookes Einfachheit in der Kleidung war verschiedenen Umständen zuzuschreiben, die größtenteils auch für ihre Schwester zutrafen. Der Stolz, von vornehmem Stande zu sein, hatte etwas damit zu tun. Die Familie der Brookes war zwar nicht gerade von Adel, doch zweifellos 'gut', denn wenn man sie einige Generationen zurückverfolgte, so fand man keinen Vorfahren, der mit der Elle hantiert oder Pakete verschnürt hatte - überhaupt nichts Geringeres als einen Admiral oder einen Geistlichen. Es ließ sich sogar ein puritanischer Edelmann feststellen, der unter Cromwell gedient, sich später aber der Staatskirche unterworfen und es zuwege gebracht hatte, aus allen politischen Wirren als Eigentümer eines ansehnlichen Familienbesitzes hervorzugehen. Junge Damen von solcher Herkunft, die in einem ruhigen Landhaus lebten und eine Dorfkirche besuchten, die kaum größer als ein Empfangszimmer war, sahen in modischem Putz naturgemäß nur den Ehrgeiz von Krämerstöchtern. Ferner gehörte bei ihnen eine musterhafte Sparsamkeit zum guten Ton, die sich in jenen Tagen vor allem in der Beschränkung der Ausgaben für Kleidung bemerkbar machte, wo doch jeder überschüssige Betrag für wichtigere Ausgaben benötigt wurde, durch die man die gesellschaftliche Stellung mehr betonen konnte. Solche Gründe hätten für schlichte Kleidung ausgereicht, ganz abgesehen von religiösen Gefühlen. Im Falle von Miss Brooke wäre jedoch die Religion ausschlaggebend gewesen, und Celia fügte sich sanftmütig allen Ansichten ihrer Schwester, erfüllte sie jedoch mit jenem gesunden Menschenverstand, der wichtige Doktrinen ohne jede überschwengliche Gemütsbewegung anzunehmen vermag. Dorothea wußte viele Abschnitte aus Pascals 'Pensées' und aus Jeremy Taylor auswendig, und die Geschicke der Menschheit, im Lichte des Christentums gesehen, ließen ihr die Sorgen um die weibliche Mode als eine Beschäftigung für Tollhäuslerinnen erscheinen. Sie konnte die Ängste eines Lebens im christlichen Geist mit all seinen Folgen für die Ewigkeit nicht mit einem starken Interesse an Chemisettes und kunstvoll angeordneten Faltenwürfen vereinbaren. Ihr Sinn war aufs Theoretische gerichtet und verlangte seiner Natur gemäß nach einer erhabenen Vorstellung von der Welt, die das Kirchspiel Tipton und die Richtschnur für ihr eigenes Verhalten dort rückhaltlos mit einschließen könnte. Sie begeisterte sich für Größe und Erhabenheit und nahm vorschnell alles an, was dem zu entsprechen schien; wahrscheinlich würde sie ein Martyrium suchen, widerrufen und es schließlich erleiden, wo sie es gar nicht gesucht hatte. Gewiß waren solche Züge im Charakter eines heiratsfähigen Mädchens dazu angetan, auf sein Schicksal einzuwirken und zu verhindern, daß es sich auf herkömmliche Weise entschied: wegen guten Aussehens, aus Eitelkeit und bloßer animalischer Zuneigung. Dabei war sie, die ältere der Schwestern, noch nicht einmal zwanzig. Nach dem Tode der Eltern waren sie beide, etwa von ihrem zwölften Lebensjahr an, nach einem zugleich