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Die Unmöglichkeit des LebensOverlay E-Book Reader

Die Unmöglichkeit des Lebens

Roman | Robin Stevenson

E-Book (EPUB)
2018 Beltz
235 Seiten; ab 14 Jahre
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-407-74930-7

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€ 6,99

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»Zu Anfang war die ganze Selbstmordgeschichte nichts weiter als ein Spiel. Oder vielleicht nicht gerade ein Spiel, sondern eher eine Art Fantasie. Sowas wie ein makaberer Scherz. Ich würde es niemals zugeben - und jetzt schon gar nicht mehr - aber es hat tatsächlich irgendwie Spaß gemacht.« Mit Jeremy kann Mel über Sinn, Schuld und Todesstrafe philosophieren. Mehr und mehr verliebt sie sich in diesen intelligenten, sensiblen Jungen. Der gemeinsame Selbstmordplan ist für sie nur ein romantisches Gedankenspiel. Doch für Jeremy ist es vielleicht der Ausweg aus seinen Schuldgefühlen...

Inge Wehrmann, geboren 1958 in Unna, studierte in Münster, Minneapolis und Bergen Anglistik, Skandinavistik und Germanistik und übersetzt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbücher sowie belletristische Werke aus dem Englischen, Norwegischen und Schwedischen. Sie lebt mit ihrer Familie in Ostwestfalen auf dem Land und spielt in ihrer Freizeit Theater.

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Freier Fall

Jeremy steht an der niedrigen Betonmauer, die sich über mehrere Meilen an der Kante der Sunshine-Skyway-Brücke entlangzieht. Der Wind peitscht ihm das Haar aus der Stirn und bläst uns kühle, salzig riechende Nachtluft ins Gesicht. Jeremy stützt die Hände auf die Mauer und beugt sich übers Wasser. »Komm hier rüber, Mel!«

Die Mauer reicht mir nur bis zur Taille, und als ich mich davorstelle und nach unten schaue, wird mir ganz schwindelig - als könnte ich allein durch die Schwerkraft hinuntergezogen werden. Weit unter mir liegt das tintenschwarze Wasser. Zitternd trete ich zurück und blicke zu Jeremy auf. Er hält das Gesicht in den Wind, und ich präge mir sein Profil ein, als machte ich ein Foto: das schwarze Haar, das ihm aus der hohen Stirn geweht wird, die lange, etwas gekrümmte Nase, die leicht geöffneten Lippen, den ernsten Blick. Entschlossen.

»Jeremy?«, sage ich. Meine Stimme kommt mir fremd vor. »Wir ziehen das doch nicht wirklich durch, oder?«

»Doch.« Er sieht mich an. »Du hast gewusst, dass wir's tun werden.«

»Keine Ahnung. Ich hab nicht geglaubt, dass wir wirklich so weit gehen.«

»Wir werden nichts spüren. Es wird schnell gehen, Mel. Ganz schnell.«

Ich stelle mir die endlosen Sekunden des Fallens vor, die verlangsamte Zeit, das dunkle Wasser, das auf mich zurast. Wird mein ganzes Leben vor meinen Augen aufblitzen? Oder ist das nur ein Mythos?

»Komm!«, fordert Jeremy mich auf. »Nimm meine Hand. Wir springen zusammen.« Er streckt die Hand nach mir aus, ich ergreife sie und wundere mich, wie warm sie ist. Mit der anderen Hand klammere ich mich noch fester an den Stahlpfosten des Halteverbotsschildes, neben dem wir geparkt haben.

Wahrscheinlich klingt es verrückt, aber ich habe schreckliche Angst, zu fallen.

»Es ist okay, Mel«, sagt Jeremy. Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn bei dem Wind, der durch die Brückenkabel heult, kaum verstehen kann.

»Jeremy.« Ich fange an zu weinen. »Hör auf. Bitte.«

»Hast du es dir anders überlegt? Denn wenn es so ist ...«

»Vielleicht«, erwidere ich. »Ich weiß nicht.« Mittlerweile ist mein Weinen in Schluchzen übergegangen. »Ich weiß es nicht.« Jeremy glaubt, dass wir zurückkehren, dass wir wiedergeboren werden. Ich weiß nicht, was ich glaube. Ich hatte nie solche Träume wie er. Wenn ich ehrlich bin, denke ich, das hier ist alles, was es gibt: Du kriegst nur eine Chance, ein Leben, und du hast nur die Wahl, ob du es leben willst oder nicht. Wenn wir springen, wird sich die Welt einfach ohne uns weiterdrehen.

»Komm schon«, drängt er. »Wir tun's jetzt. Bereit?« Er schwingt ein Bein über die Mauer.

»Nein. Jeremy ...« Ich greife nach seinem Arm, und das Gewicht seines hinabstürzenden Körpers reißt mich nach vorn. Etwas in meinem Inneren schreit: Nein, nein, nein!, und mein Herz hämmert so verzweifelt in meiner Brust, dass es wehtut, aber es ist zu spät, meine Füße heben sich vom Boden, ich werde fallen ...

Doch dann rutscht mir Jeremys Ärmel aus der Hand. Panisch suche ich Halt, umklammere den Stahlpfosten, zappele mit den Beinen, versuche, mit den Füßen wieder Halt auf der Brücke zu finden. Ich bin noch hier, stehe an der Kante.

Und Jeremy ist fort.

Ich starre hinab in die Dunkelheit, die ihn verschluckt hat. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich kann nichts sehen, kann nicht einmal die Wasseroberfläche unter der Brücke erkennen. Da unten ist nichts als Schwarz, ein undurchdringliches, schwarzes Nichts.

Ich könnte es immer noch tun, könnte immer noch springen ... aber ich weiß längst, dass ich es nicht tun werde. Ich wende mich von der Brüstung ab und sehe ein Auto nach dem anderen vorbeifahren. Leute, die ihr Leben weiterführen, als sei nichts geschehen. Niemand hält an. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Mein Atem geht unregelmäßig und keuchend. Entferntes Sirene



Inge Wehrmann hat in Münster, Minneapolis und Bergen Anglistik, Skandinavistik und Germanistik studiert. Seit über zwanzig Jahren übersetzt sie Literatur aus dem dem Englischen und den skandinavischen Sprachen. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Söhnen auf dem Land.