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Erwin Strittmatter

Die Biographie | Annette Leo

E-Book (EPUB)
2012 Aufbau Digital
Auflage: 1. Auflage
448 Seiten; Mit 61 Abbildungen
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-8412-0513-1

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Annäherung an eine umstrittene Biographie. Kaum ein Schriftsteller wurde von seinen Lesern in der DDR geliebt und verehrt wie Erwin Strittmatter. Und kaum einer wurde später so radikal verurteilt. Diese Biographie zeigt ihn endlich im Spiegel seriös ausgewerteter Quellen und Dokumente, die vielfach aus Strittmatters Privatarchiv stammen. Selten ist ein Autor so plastisch in seiner inneren Entwicklung und den Auseinandersetzungen seiner Zeit porträtiert worden. »Behutsam werden die bekannten geschichtlichen Details eingeordnet, ohne Eifer und Zorn, aber auch ohne Schonung.« Volker Hage, DER SPIEGEL. Der Bestseller erstmals im Taschenbuch - aktualisierte Ausgabe.

Dr. Annette Leo, 1948 in Düsseldorf geboren, studierte Geschichte und Romanistik an der Humboldt-Universität. Die Historikerin und Publizistin lebt in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: »Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz - Wissenschaftler, Jude, Kommunist« (2005), »>Das ist so?n zweischneidiges Schwert hier unser KZ ...< Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück« (2007). Bei Aufbau erschien zuletzt »Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie« (2018).



Annäherung an eine umstrittene Biographie Erwin Strittmatter wurde 1912 im Kaiserreich geboren, er starb 1994 im vereinigten Deutschland. Dazwischen erlebte er zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die DDR. Ein Jahrhundertleben, das geprägt war von historischen Brüchen, Katastrophen und Zwängen, eine Erfolgsgeschichte als Autor, die nach dem Untergang der DDR noch wuchs. Annette Leo nähert sich Strittmatters Biographie mit Hilfe von Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen von Zeitzeugen und Dokumenten, die zum großen Teil aus Strittmatters Privatarchiv stammen. Sie rekonstruiert das bisher verschwiegene Kapitel seiner Mitgliedschaft in einer Polizeiformation während des Krieges und fragt nach seinem Platz als Schriftsteller und Verbandsfunktionär in den politischen Konflikten der DDR. So entsteht nicht zuletzt auch ein lebendiges Charakterbild des höchst komplizierten und widersprüchlichen Autors.

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

LEKTÜRE

Erwin Strittmatter war Schulstoff. Wir nahmen »Tinko« und »Ole Bienkopp« im Deutschunterricht durch. »Tinko« war in der siebten oder achten Klasse dran. Das war bei unserem Klassenlehrer Herrn Schmidt, der katholisch war und der deshalb so viele Kinder hatte, das behauptete jedenfalls meine Mutter, die war im Elternaktiv und wusste Bescheid. Herr Schmidt glaubte an Gott und gleichzeitig an den Sozialismus. Unter seiner Anleitung teilten wir die Figuren im Roman in zwei Gruppen ein: in solche, die für, und solche, die gegen den Fortschritt auf dem Lande waren. Zahlenmäßig ergab das eine ziemlich ausgeglichene Bilanz, trotzdem gewannen am Ende natürlich die Guten. Während wir im Unterricht den Tinko-Stoff behandelten, lief gleichzeitig eine Kampagne, um die letzten Einzelbauern zum Eintritt in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zu bewegen. »Sozialistischer Frühling auf dem Lande« wurde das genannt. Ich war für den Frühling. Es gab zwar keine Schlagsahne mehr zu kaufen, und die Butter und das Fleisch wurden wieder rationiert, doch das, so tröstete mich mein Vater, seien nur die Schwierigkeiten des Übergangs. In der Weltgeschichte setze sich der Fortschritt niemals ohne zeitweilige Rückschläge durch.

Mit dieser Auffassung stand ich in meiner Klasse ziemlich allein. Das war offensichtlich, obwohl meine Mitschüler bei solchen Themen im Unterricht eher schwiegen. Nur Wolfgang Kümmel, der schräg hinter mir saß, meldete sich einmal und sagte mit zitternder Stimme, er wisse von Bauern, die sich erhängt hätten, weil sie nicht in die Genossenschaft eintreten wollten. Darauf herrschte ein Moment Stille. Ich drehte mich um und starrte Wolfgang erschrocken an. Ob das stimmte, was er da gerade gesagt hatte? Was würde Herr Schmidt darauf antworten? Seltsamerweise tat Herr Schmidt so, als hätte er nichts gehört. Wir sollten das Buch aufschlagen, meinte er, und Beispiele für Strittmatters besondere Sprache heraussuchen. »Die Großmutter strich über die härene Schürze«, an diesen Satz erinnere ich mich noch, und er ist für mich bis heute verbunden mit dem Bild von Wolfgang Kümmels trotzigem blassem Gesicht.

Interessanter und aufregender als das Buch war der Film »Tinko«, den wir uns in einer Vormittagsvorstellung un seres Kinos anschauten. Dieser ohrenbetäubende Lärm im Saal jedes Mal vor einer solchen Schulvorstellung, die Gegenstände, die hin und her geworfen, die Püffe und Knüffe, die verteilt wurden. Erst wenn der Gong ertönte und das Licht erlosch, wurde es plötzlich still. Der Schauspieler Günther Simon spielte Tinkos Vater. Der Junge nennt ihn aber fast bis zum Ende des Films nur den »Heimkehrer«, weil er ihm nach so vielen Jahren Krieg und Gefangenschaft fremd geworden ist. Der »Heimkehrer« gehörte im Film übrigens zu denen, die sich für den Fortschritt auf dem Lande einsetzten. Das wunderte mich nicht, denn seitdem Günther Simon die Hauptrolle im Thälmann-Film gespielt hatte, verkörperte er für mich in allen seinen Rollen immer auch ein bisschen Ernst Thälmann, der vielleicht doch nicht tot war, wie es ja sogar in dem Lied hieß, sondern still und bescheiden in der Maschinen-Traktoren-Station eines Dorfes für den Sozialismus arbeitete.

Strittmatters Roman »Ole Bienkopp« behandelten wir 1964 oder 1965 im Unterricht, als ich schon zur Oberschule ging. Immerhin erstaunlich, dass dieses Buch bereits ein oder zwei Jahre nach seinem Erscheinen in den Lehrplan aufgenommen wurde. War denn unser Bildungssystem so flexibel? Ich rufe unsere damalige Deutschlehrerin Frau Rothe an. Sie erinnert sich sofort, wir waren schließlich ihre erste Klasse gleich nach dem Studium. »Ole Bienkopp«, sagt sie, habe zwar nicht im Lehrplan gestanden, aber es habe aktuelle Empfehlungen gegeben, die sie gern aufgriff, um uns an die moderne DDR-Literatur heranzuführen. Sie meint auch, wir seien beeindruckt bis begeistert gewesen, vor allem von dieser neuartigen knappen Sprache.

An meine dam