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Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte

Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte

Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik | Julia Paulus; Eva-Maria Silies; Kerstin Wolff

Taschenbuch
2012 Campus
Auflage: 1. Auflage
336 Seiten; 21.1 cm x 13.9 cm
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-593-39742-9

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Geschichte und Geschlechter

In der Zeitgeschichte herrscht die These einer fortschreitenden Emanzipation der Frauen seit den 1950er-Jahren vor. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich freilich ein anderes Bild. Anhand von Themenfeldern wie »Beruf und Familie«, »Sexualitäten und Körper« und »Partizipation und Protest« wird in diesem Band die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik einer geschlechterhistorischen Analyse unterzogen. Dabei wird deutlich, dass sich gesellschaftlich tief verwurzelte Vorstellungen zu den Geschlechterrollen nur langsam verändern - egal, ob in Zeiten der Stagnation oder eines dynamischen Wandels.

Inhalt

Einführung

Die Bundesrepublik aus geschlechterhistorischer Perspektive
Julia Paulus, Eva-Maria Silies und Kerstin Wolff 11


Nachkrieg und Geschlechterordnung


Kriegerwitwen und ›Töchter ohne Väter‹ in der Bundesrepublik
Lu Seegers 31

Gegen den politischen Trend: Der Beitrag der SPD-Frauen zur Durchsetzung des Gleichberechtigungsgebots
Angela Pitzschke 52

Friedensklärchens Feindinnen. Klara-Maria Fassbinder und das antikommunistische Frauennetzwerk
Irene Stoehr 69

Kommentar: Nachkriegszeit und Geschlechterordnung
Kirsten Heinsohn 92


Segregierte Berufswelten


"Was ist Diskriminierung?" - Professorinnen ringen um ein hochschulpolitisches Konzept (1949-1989)
Christine von Oertzen 103

Berufene Arbeit? Zur Berufsausbildung junger Frauen in der Bundesrepublik
Julia Paulus 119

Teilhabe und Ausgrenzung: Das Beispiel bundesdeutscher Unternehmerinnen (1954-1989)
Christiane Eifert 144

Kommentar: Brüche, Ungleichzeitigkeiten, Kontinuitäten:
Zum Verhältnis von Bildung, Arbeit, Profession und Geschlecht
Mechthild Bereswill 160


Vereinbarkeit von Beruf und Familie


Mehr Möglichkeiten für Mütter? Die Erziehungsgelddebatte und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Westdeutschland
Sarah Summers 169

Reformen und Krisen: Ganztagsschule und Frauenerwerbsarbeit in der Bundesrepublik
Monika Mattes 179


Sexualitäten und Körper


Erfahrungen des Bruchs? Die generationelle Nutzung der Pille in den sechziger und siebziger Jahren
Eva-Maria Silies 205

Frau Muskeltyp, Herr Hexe und Fräulein Butch? Geschlechtlichkeiten und Homosexualitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Benno Gammerl 225

Kommentar: Geschlechtlichkeit und Sexualität aus körpergeschichtlicher Perspektive
Peter-Paul Bänziger 246


Partizipation und Protest


Ein Traditionsbruch? Warum sich die autonome Frauenbewegung als geschichtslos erlebte
Kerstin Wolff 257

Protestieren und Polarisieren: Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München
Elisabeth Zellmer 276

Von der Politisierung des Privatlebens zum neuen Frauenbewusstsein: Körperpolitik und Subjektivierung von Weiblichkeit in der Neuen Frauenbewegung Westdeutschlands
Imke Schmincke 297

Kommentar: Allgemeine Geschichte und Feminismusgeschichte: Die Frauenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik
Kristina Schulz 318


Autorinnen und Autoren 329
Personenregister 334

Julia Paulus, Dr. phil., ist wissenschaftliche Referentin am Institut für westfälische Regionalgeschichte und Lehrbeauftragte für Neuere
und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Eva-Maria Silies, Dr. phil., ist Forschungsreferentin an der Freien Universität
Berlin. Kerstin Wolff, Dr. phil., ist wissenschaftliche Referentin bei der Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel.

Angesichts dieser Befunde ließe sich bereits an dieser Stelle der Beweis einer "Nicht-Einheit der Geschichte" führen, wollte man lediglich die Korrektivfunktion der Analysekategorie Geschlecht innerhalb des Mainstreams der historischen Forschung bemühen. Stattdessen wagen wir den Versuch einer engagierten und zum Teil kontrovers geführten Diskussion über den einen Weg oder die vielen Pfade einer Geschlechtergeschichte als Zeitgeschichte. Das Ergebnis dieses Experiments dokumentiert dieser Tagungsband. Vorgestellt werden 13 Studien aus fünf Forschungsfeldern der aktuellen zeithistorischen Geschlechterforschung sowie vier reflektierende Kommentare zu den verschiedenen Themen- und Methodenzugängen.

Unter der Überschrift: Nachkrieg und Geschlechterordnung verhandeln Lu Seegers, Angela Pitzschke und Irene Stoehr - flankiert von einem Kommentar von Kirsten Heinsohn - grundlegende Problemfelder der sich neu konstituierenden westdeutschen Gesellschaftsordnung. So kann Lu Seegers in ihrem Beitrag zu Kriegerwitwen und deren Töchtern anhand von Interviews nachweisen, dass der Umgang mit dem Verlust des Vaters nachhaltigen Einfluss auf das Geschlechter- und Partnerverständnis eines großen Teils der weiblichen (Nach-)Kriegsgeneration besaß. Welche (partei-)politischen Faktoren Einfluss auf den - nicht selten - mühsamen gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterordnung in Richtung Gleichberechtigung hatten, untersucht Angela Pitzschke in ihrem Beitrag zur Politik der Sozialdemokratie. Irene Stoehr macht in ihrer Studie zu der Friedensaktivistin Klara-Maria Fassbinder deutlich, dass nicht zuletzt die - strikt antikommunistisch ausgerichtete - staatsbürgerliche Arbeit der Frauenverbände nicht nur zu einer Verfestigung, sondern auch zu einer Diversifizierung von weiblichen Geschlechterrollen beitrug.

Der zweite thematische Block, der Beiträge von Christine von Oertzen, Julia Paulus und Christiane Eifert sowie einen Kommentar von Mechthild Bereswill enthält, beschäftigt sich unter der Überschrift Segregierte Berufswelten mit den Themen (Aus-)Bildung und (Erwerbs-)Arbeit. Während Christine von Oertzen das Ringen der berufspolitischen Selbstorganisation von Akademikerinnen untersucht, fragt Julia Paulus nach zählebigen Geschlechterordnungsvorstellungen in den Organisationsstrukturen der dualen Ausbildung von weiblichen Lehrlingen. Weniger mit Fragen der Organisation als der Identifikation beschäftigt sich Christiane Eifert in ihrem Beitrag zu westdeutschen Unternehmerinnen, in dem sie nach ambivalenten Repräsentationen von weiblichen Vertretern des Wirtschaftsbürgertums fragt.

Das auch aktuell diskutierte Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Vor dem Hintergrund der Debatten zum Erziehungsgeld untersucht Sarah Summers die Langlebigkeit traditioneller - geschlechtssegregierender - Arbeitsstrukturen und deren Auswirkungen auf familienpolitische Ordnungsvorstellungen. Vice versa beschäftigt sich Monika Mattes in ihrer Untersuchung zur Einführung der Ganztagsschule in Deutschland mit den Barrieren von Arbeitnehmerinnen, die nicht zuletzt durch strukturelle Defizite im Sozial- und Erziehungssystem in ihrer freien Berufswahl behindert wurden. Leider musste an dieser Stelle der vorgesehene Kommentar entfallen.

Unter dem Themenkomplex Sexualitäten und Körper beschäftigen sich Artikel von Eva-Maria Silies und Benno Gammerl sowie ein Kommentar von Peter-Paul Bänziger mit der These, dass es in den sechziger Jahren zu einem grundlegenden Bruch in der Erfahrung von und der Beschäftigung mit Körper und Körperlichkeit gekommen sei. Eva-Maria Silies fragt in diesem Zusammenhang nach Veränderungen in Verhaltensdispositionen von Frauen und Männern, die die Einführung der hormonellen Verhütung mit sich gebracht hat. Inwiefern sich die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit grundsätzlich veränderten, geht Benno Gammerl am Beispiel von Kontaktanzeigen homosexueller Frauen und Männer in seinem Beitrag nach.

Im letzten Kapitel finden sich unter der Überschrift Partizipation und Protest drei Beiträge von Imke Schmincke, Kerstin Wolff und Elisabeth Zellmer sowie ein Kommentar von Kristina Schulz. In enger Korrelation zum vorherigen Kapitel untersucht Imke Schmincke die Auswirkungen der von der Neuen Frauenbewegung eingeforderten neuen Körperpolitik auf das konkrete politische Handeln von Frauen. Auch Elisabeth Zellmer fragt nach den spezifischen Ausformungen der Politik von Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung. Am Beispiel von München analysiert sie hierbei sowohl deren Kontextualisierung im sozialen Raum sowie die Deutungszusammenhänge der Protagonistinnen. Kerstin Wolff schließlich untersucht die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung und deren (selektive) Geschichtsbezogenheit.

Bei aller Heterogenität der Themen und methodischen Zugriffsweisen machen doch alle in diesem Band versammelten Beiträge eines deutlich: Dass sich gesellschaftlich tief verwurzelte Vorstellungen wie diejenigen der Geschlechterrollen sowohl in Zeiten beharrender Stagnation wie auch während eines dynamischen Wandels als träge Masse nur langsam und oftmals nur zögernd verändern.