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Strafe

Stories | Ferdinand Schirach

E-Book (EPUB)
2018 Luchterhand Literaturverlag
192 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-641-20341-2

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€ 9,99

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Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wie wurden wir, wer wir sind?

Ferdinand von Schirach beschreibt in seinem neuen Buch 'Strafe' zwölf Schicksale. Wie schon in den beiden Bänden 'Verbrechen' und 'Schuld' zeigt er, wie schwer es ist, einem Menschen gerecht zu werden und wie voreilig unsere Begriffe von 'gut' und 'böse' oft sind.

Ferdinand von Schirach verurteilt nie. In ruhiger, distanzierter Gelassenheit und zugleich voller Empathie erzählt er von Einsamkeit und Fremdheit, von dem Streben nach Glück und dem Scheitern. Seine Geschichten sind Erzählungen über uns selbst.



Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u.a. die Erzählsammlung Nachmittage sowie der Theatermonolog Regen.



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Die Schöffin

Katharina wuchs im Hochschwarzwald auf. Elf Bauernhöfe auf 1100 Meter Höhe, eine Kapelle, ein Lebensmittelgeschäft, das nur montags geöffnet hatte. Sie wohnten im letzten Gebäude, einem dreistöckigen Hof mit heruntergezogenem Dach. Es war das Elternhaus ihrer Mutter. Hinter dem Hof war der Wald und dahinter waren die Felsen und dahinter war wieder der Wald. Sie war das einzige Kind im Dorf.

Der Vater war Prokurist einer Papierfabrik, die Mutter Lehrerin. Beide arbeiteten unten in der Stadt. Katharina ging nach der Schule oft zur Firma des Vaters, sie war damals elf Jahre alt. Sie saß im Büro, wenn er über Preise, Rabatte und Liefertermine verhandelte, sie hörte bei seinen Telefonaten zu, er erklärte ihr alles so lange, bis sie es verstand. In den Ferien nahm er sie mit auf Geschäftsreisen, sie packte seine Koffer, legte seine Anzüge raus und wartete im Hotel, bis er von den Terminen zurückkam. Mit dreizehn war sie einen halben Kopf größer als er, sie war sehr schmal, ihre Haut hell, ihre Haare fast schwarz. Ihr Vater nannte sie Schneewittchen, er lachte, wenn jemand sagte, er habe eine sehr junge Frau geheiratet.

Zwei Wochen nach Katharinas vierzehntem Geburtstag schneite es das erste Mal in diesem Jahr. Es war sehr hell und sehr kalt. Vor dem Haus lagen die neuen Holzschindeln, der Vater wollte das Dach noch vor dem Winter ausbessern. Wie jeden Morgen fuhr sie mit der Mutter zur Schule. Vor ihnen war ein Lastwagen. Die Mutter hatte den ganzen Morgen nicht gesprochen.

»Dein Vater hat sich in eine andere Frau verliebt«, sagte sie jetzt. Auf den Bäumen lag Schnee und auf den Felsen lag Schnee. Sie überholten den Lastwagen, auf der Seite stand »Südfrüchte«, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe. »In seine Sekretärin«, sagte die Mutter. Sie fuhr zu schnell. Katharina kannte die Sekretärin, sie war immer freundlich gewesen. Der Vater hatte ihr nichts gesagt, nur daran konnte sie noch denken. Sie drückte ihre Fingernägel in die Schultasche, bis es weh tat.

Der Vater zog in ein Haus in der Stadt. Katharina sah ihn nicht mehr.

Ein halbes Jahr später wurden Bretter vor die Fenster des Hofs genagelt, das Wasser wurde aus den Rohren gelassen und der Strom abgestellt. Die Mutter und Katharina zogen nach Bonn, dort lebten Verwandte.

Katharina brauchte ein Jahr, um sich den Dialekt abzugewöhnen. Für die Schülerzeitung schrieb sie politische Aufsätze. Als sie sechzehn war, druckte eine lokale Tageszeitung ihren ersten Text. Sie beobachtete sich bei allem, was sie tat.

Weil sie das beste Abitur gemacht hatte, musste sie in der Aula der Schule die Abschlussrede halten. Es war ihr unangenehm. Später, auf der Party, trank sie zu viel. Sie tanzte mit einem Jungen aus ihrer Klasse. Sie küsste ihn, sie spürte seine Erektion durch die Jeans. Er trug eine Brille aus Hornimitat und hatte nasse Hände. Manchmal hatte sie an andere Männer gedacht, selbstbewusste, erwachsene Männer, die sich nach ihr umgedreht und gesagt hatten, sie sei hübsch. Aber sie waren ihr fremd geblieben, zu weit weg von dem, was sie kannte.

Der junge Mann fuhr sie nach Hause. Sie befriedigte ihn im Wagen vor ihrer Wohnung, während sie an die Fehler in ihrer Rede dachte. Dann ging sie nach oben. Im Badezimmer schnitt sie wieder mit der Nagelschere in ihr Handgelenk. Es blutete stärker als sonst. Sie suchte einen Verband, Fläschchen und Tuben fielen in das Waschbecken. »Ich bin beschädigte Ware«, dachte sie.

Nach dem Abitur zog sie mit einer Schulfreundin in eine Zweizimmerwohnung und begann Politikwissenschaften zu studieren. Nach dem zweiten Semester bekam sie eine Stelle als studentische Hilfskraft, am Wochenende jobbte sie als Unterwäschemodell für Kaufhauskataloge.

Im vierten Semester machte sie ein Praktikum bei einem Landtagsabgeordneten. Er stammte aus der Eifel, seine Eltern hatten dort ein Modegeschäft. Es war seine erste Wahlperiode. Er sah aus wie eine ältere Versio